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Wenn Kinder „Auszeiten“ oder „time out“ erleben

Von Kathrin

Leon sitzt allein in der Garderobe und blickt schüchtern auf den Boden. Als Fachkraft Manuela herein kommt, fragt sie das Kind was los sei. Leon antwortet mit gebrochener Stimme, dass er aus dem Raum geschickt worden ist und erst wiederkommen soll, wenn er sich beruhigt hat. Manuela ist empört und tröstet den Jungen.

Seit dem Jahr 2000 gibt es in der Erziehung ein Gewaltverbot und körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind demnach unzulässig.

Auch wenn Gewalt an Kindern strafbar ist, so werden Demütigungen und körperliche Züchtigungen nach wie vor, teilweise auch aus Überzeugung, eingesetzt (Juul 2014, S. 30).

In den Konzeptionen von pädagogischen Einrichtungen wird eines nicht zu finden sein: Strafen als pädagogische Maßnahme und dennoch sind Bestrafungen noch Gang und Gebe.

Aber wie kann es dazu kommen, dass Kinder auf Stühle gesetzt, angemeckert oder zum Schlafen genötigt werden?

Auslöser für Strafen

Fachkräfte haben definitiv eine große Herausforderung zu meistern, indem sie Kindergruppen über viele Stunden am Tag begleiten. Ihr Aufgabenspektrum ist vielseitig. Zudem stehen müssen sie rund um die Uhr präsent sein und sich auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einstellen, ganz egal wie es ihnen selbst in diesem Moment geht.

Unter Stress, Hektik, Überforderung und Druck entsteht Ärger oder auch Wut leichter. Es droht die Gefahr, dass Fachkräfte unüberlegt und im Affekt handeln. Beliebte Strafen im Kindergarten sind der Ausschluss aus der Gruppe, die Streichung einer Aktivität oder eines Ausfluges oder der Entzug einer Belohnung. Diese Strafen werden aus Überforderung oder als Druckmittel in Konfliktsituationen eingesetzt.

Für einige Fachkräfte sind diese Erziehungsmaßnahmen nach wie vor angemessen und selbstverständlich. Sie handeln aus Überzeugung. Andere haben keine anderen Alternativen in diesem Moment und greifen auf Altbekanntes zurück, da sie in ihrer Kindheit selbst unter dieser Form von Gewalt gelitten haben.

Aus welchem Grund auch immer: Strafen gilt es zu stoppen und den Hergang zu reflektieren.

Die Last der eigenen Erfahrungen

Erwachsene strafen eher, wenn sie selbst Bindungspersonen erlebten, die strafend vorgegangen sind. Wird das eigene Erleben nicht reflektiert und hinterfragt, wiederholt sich das bekannte Muster meist automatisch. Man spricht hier von der transgenerationalen Weitergabe (vgl. Saalfrank 2017, S. 79 ff.; Strüber 2019, S. 250).

„Denn jemand, der selber in der Kindheit in Konfliktsituationen abgewertet, gedemütigt, kleingemacht und gestraft wurde, hat dadurch in seinem Bindungs- und Beziehungssystem einen Reflex eingepflanzt und verankert bekommen. Einen Reflex, der etwas Kämpferisches birgt (…). Diese eingebrannten Beziehungsmechanismen kommen bei Stress und Überforderung zutage, in Form von wenig liebevollem Handeln durch Strafen, Sanktionen und Konsequenzen (…)“

(Saalfrank 2017, S. 81).

Durch die Reflexion des eigenen Handelns ist es möglich neue Handlungswege zu entwickeln, auch wenn dies viel Übung und Geduld benötigt. Im emotionalen Nervensystem sind die eigenen Erfahrungen tief verwurzelt und so geschieht es, dass Fachkräfte unter Stress auf Erlebtes zurückgreifen, statt auf neue Strategien. Stress, Überforderung oder auch eigene Verletzungen beeinflussen das Handeln.

Um die Weitergabe von Gewalterfahrungen – und hierzu zählen körperliche und seelische Strafen – zu durchbrechen, ist es wichtig, dass Fachkräfte sich die eigenen unerfüllten emotionalen Bedürfnisse anschauen und „schwarze Flecken“ zu erkennen und zu heilen. Die Biografiearbeit oder eine Form der Therapie kann hierfür unterstützend nötig sein.

In jedem Fall trägt die Fachkraft immer die Verantwortung für ihr Verhalten und ihre Reaktionen und darf diese nicht an das Kind übertragen.

Statt zu sagen: „Leon ist selbst schuld, dass er in der Garderobe sitzt, wenn er sich so benimmt“, sollte es heißen „Ich bin gerade erschöpft und brauche Ruhe. Leon stoppe bitte das Geschrei im Raum“

Dadurch erlebt der Junge eine Grenzsetzung und erfährt von der Bezugsperson wie sie fühlt und was sie braucht.

Die Folgen von Strafen

Als Fachkraft Manuela mit ihrem Kollegen Nils über Leon spricht, der eine Auszeit in der Garderobe nehmen musste, sagt dieser nur: „Es hat mir auch nicht geschadet, der Junge soll mal in Ruhe nachdenken was passiert ist.“

Fachkräfte sind bestrebt im Sinne des Bildungsauftrages und den Ansprüchen der Eltern und Kolleg:innen Kinder und die Kindergruppe zu bilden und zu erziehen. Sie verfolgen mit dem Einsatz von Strafen vermutlich vordergründig das Ziel, Fehlverhalten zu minimieren und zu verändern (vgl. Haug-Schnabel 2011, S. 127 f.). Das trügerische ist, dass Strafen für einen gewissen Zeitraum Wirkung zeigen und Kinder ihr Verhalten anpassen. Nicht aber, weil sie verstehen, sondern vielmehr aus Angst und Stress. Kinder erfahren dadurch nicht wie sie sich sozial verhalten, vielmehr erleben sie, wie mit Macht der Wille eines Menschen durchgesetzt werden kann. Ein Vorgehen, welches Fachkräfte sich in Konflikten unter Kindern anders wünschen. Selbst erfahren sie aber, dass „der oder die Stärkere gewinnt“.

Strafen sind eine Form der Gewalt und Gewalt erzeugt immer Gegengewalt.

Und damit sind körperliche, seelische Strafen ebenso gemeint, wie die „Bindungsstrafe“, der Ausschluss aus Gruppen oder ein Ignorieren (Scherwath 2021, S. 109).

Der Schmerz brennt sich förmlich im „Aggressionsgedächtnis“ ein. Er hinterlässt „(…) eine emotionale Erinnerungsspur, die den Aggressionsimpuls für einen eventuellen späteren Gebrauch wie eine Konserve aufbewahrt“ (Bauer 2013, S. 78). Zudem wird durch den Einsatz von Strafen automatisch die Schwäche der Kinder in den Vordergrund gerückt und die Fachkraft tritt in die mächtige, autoritäre Position.

Wenn die Fachkraft Demütigungen des einzelnen Kindes oder der Kindergruppe in Kauf nimmt, wird sie ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht gerecht.

Die Überforderung ansprechen!

Die Arbeit mit Kindern ist sehr herausfordernd, sowohl physisch wie auch psychisch. Jede Situation erfordert eine hohe Aufmerksamkeit und eine Dauerpräsenz der Fachkraft. Fachkräfte stehen täglich im „Rampenlicht“ und werden unabhängig von der eigenen Verfassung und Befindlichkeiten stark gefordert. Es ist ratsam mit Ängsten, Gefühlen der Überforderung und Zweifeln offen umzugehen und diese selbst zu benennen. Fallen Fachkräften Übergriffe untereinander auf, so gilt es auch diese zweifelsfrei anzusprechen, denn auch die Wegsehen, ein „Schönreden“ oder rechtfertigen macht es nicht besser. Auch dies ist eine Form der Gewalt, die es zu stoppen gilt!

Fachkraft Nils geht nachdem seine Kollegin ihn angesprochen hat in sich. Am kommenden Tag sucht er das Gespräch und teilt ihr mit, dass er Leon in die Garderobe geschickt hat, weil er selbst in diesem Moment überfordert gewesen war. Er wusste sich nicht anders zu helfen.

Fühlen sich Fachkräfte in ihrem Selbstwert gekränkt und reagieren mit Ärger und Wut, verhängen Strafen, Sanktionen oder richten die eigenen Gefühle gegen die Kinder, so ist unabdingbar diese Dynamik zu hinterfragen. Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, auch bei schlechten Rahmenbedingungen.

Diese „reflexartigen Momente“ gilt es in Ruhe zu betrachten, um mit externer Unterstützung (z.B. Supervision) oder im vertrauten Team gemeinsam nach Veränderungen und Lösungen zu schauen und andere Handlungsalternativen einzuspielen.

Nils sieht ein, dass er selbst diese Auszeit, eine Pause und einen Moment der Ruhe gebraucht hätte. Es hat ihn so verärgert, dass die Kinder nicht gehört haben. Lisa schlägt vor, dass sie diese Situation in der nächsten Supervision besprechen können, denn sie weiß, dass alle Fachkräfte diese Situationen kennen und gemeinsam können sie sich unterstützen, damit sie im Sinne des Kindeswohles achtsam handeln.


Verantwortung übernehmen

Kein Kind sollte unter „Seelenprügel“ (Ballmann 2019) leiden müssen. Was aber wenn Fachkräfte überreagiert haben? Für die Psyche des Kindes ist es von großer Bedeutung, dass Erwachsene die Verantwortung für ihr Handeln tragen. Das Kind trägt keine Schuld oder Verantwortung für die Reaktion und die Fachkraft muss in der Lage sein Stressfaktoren zu erkennen und sich selbst zu regulieren, bevor sie Kinder co-reguliert oder gar überreagiert. Bei Überreaktionen kann die Fachkraft das eigene Verhalten bedauern und um Verzeihung bitten, mit dem Kind achtsam Verbindung aufnehmen und über die Situation (die eigenen Gefühle, Bedürfnisse) sprechen.

Im Nachhinein sollte sie unbedingt die Auslöser notieren, die Situation reflektieren und bestenfalls besprechen, um zukünftig alternative Handlungsstrategien nutzen zu können. Hilfe anzunehmen ist stark und absolut keine Schwäche! (vgl. Hohmann 2021, S. 101).

Fazit

Erwachsene tragen die Verantwortung für die Form der Beziehung zu den Kindern und für das eigene Handeln. Kinder tragen keine Schuld für den Ärger der Fachkräfte und deren Reaktionen. Sie lösen lediglich Handlungen aus und wecken alte Muster, die gefühlt Fässer zum Überlaufen bringen können. Kinder sind dafür die falschen Ansprechpartner. Denn grundsätzlich möchten Kinder kooperieren und sich in Beziehungen wertvoll und anerkannt fühlen, wie Erwachsene auch.

Um den Umgang mit schwierigen und herausfordernden Situationen zu lernen, benötigen Kinder verlässliche Erwachsene, die ihnen dies vorleben. Es geht vor allem darum, die Grenzen der Kinder zu achten und zu respektieren, wenn erwartet wird, dass auch die Kinder die Grenzen der anderen Mitmenschen schützen.

Kinder achten viel stärker darauf was ihnen vorgelebt, als was ihnen gesagt wird. Wird von ihnen erwartet/gewünscht, sich in gefühlsstarken konfliktreichen Situationen gewaltlos und empathisch zu verhalten, ist es am wichtigsten, ihnen dies zu zeigen. Auch wenn seitens der Fachkräfte ein kindliches Verhalten nicht nachvollziehbar ist, darf kein Kind herabgewürdigt oder gedemütigt werden. Die Fachkraft sollte ihren Standpunkt für das Kind verständlich und klar formulieren. So erhalten Kinder die Möglichkeit dies zu erlernen. Werden ihre Grenzen und Bedürfnisse gewahrt, achten sie auch auf die der anderen.


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Dieser Beitrag erschien in gekürzter Version im Heft „Didacta- Meine Kita“

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